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Die Regel ist so gut etabliert, dass sie längst auf Ärztelatein formuliert ist: „Nil per os ab Mitternacht“. Patientinnen oder Patienten sollen am Tag der OP nichts mehr „durch den Mund“ („per os“) zu sich nehmen. Vor rund 80 Jahren beobachtete der Gynäkologe Curtis Lester Mendelson: Ein voller Magen kann Probleme machen. Die Narkose schaltet auch die Schutzreflexe des Körpers wie Husten, Schlucken oder Würgen aus. Steigt während des Eingriffs verdaute Nahrung die Speiseröhre hoch, besteht die Gefahr, dass diese eingeatmet wird. Das kann eine lebensgefährliche Lungenentzündung nach sich ziehen. Jahrzehnte lang mussten daher Patienten zur eigenen Sicherheit, viele Stunden vor einer OP auf Essen und Trinken verzichten.
Inzwischen ist klar: Das Sicherheitskonzept birgt seine Schwächen. „Ein mehrstündiges Nüchternheitsgebot bringt die Patientinnen und Patienten, in einen Erschöpfungszustand – und das ausgerechnet vor einem anstrengenden Eingriff“, sagt Jens Kubitz, Leiter der Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin am Klinikum Nürnberg. Unwohlsein, Kreislaufschwäche oder auch ein verlangsamter Heilungsprozess können die Folgen sein.
Wie lange ist Essen und Trinken vor der Narkose erlaubt?
Die Leitlinien empfehlen, das Trinken zwei Stunden vor dem Eingriff einzustellen, Essen sechs Stunden vorher. Aber: Studien zeigen, dass die meisten Patienten, wenn sie in den OP Saal geschoben werden, seit neun Stunden oder länger nichts getrunken haben und seit 17 Stunden nichts mehr gegessen. Sei es, weil sie alles besonders richtig machen wollen und vorzeitig abstinent bleiben oder weil die OP später als geplant stattfindet. „Vor allem der Flüssigkeitsmangel ist problematisch“, sagt Chefarzt Kubitz. Daher erproben einige Kliniken in Projekten ein neues Nüchternheitskonzept. Es erlaubt nicht nur das Trinken klarer Flüssigkeiten, bis der Transport zum OP Saal an steht, es ermuntert sogar dazu.
Ist das neue Konzept auch sicher?
Flüssigkeiten laufen innerhalb von zehn Minuten durch den Magen. Energiereiche Getränke, zum Beispiel die sogenannten Carbodrinks – für Sportler konzipierte, kohlenhydratreiche Getränke –, sind nach 20 Minuten durch. Eine niederländische Studie von 2023 zeigt, dass das Konzept „Trinken bis Abruf“ die Komplikationsrate nicht erhöht. Insbesondere kam es nicht vermehrt zu Aspirationen, also dem gefürchteten Einatmen von Mageninhalt.
Was genau bedeutet „klare Flüssigkeit“?
„Unsere Patienten sind sehr dankbar, wenn sie am Morgen noch ihren gewohnten Kaffee trinken dürfen“, berichtet Kubitz. Auch Kaffee zählt zu den „klaren Flüssigkeiten“. Er darf sogar einen Schuss Milch enthalten. Caffè Latte jedoch ist tabu, höher als 20 Prozent sollte der Milchanteil nicht sein. Wasser ist erlaubt, auch Tee, klare Säfte ohne Fruchtfleisch, Limonaden. „Gezuckerter Tee oder eine Apfelschorle sind geradezu ideal“, so der Anästhesist. Die emp fohlene Menge liegt bei bis zu 200 Milliliter pro Stunde.
Welche Vorteile bringt das Trinken bis zur OP?
Fehlt dem Körper Flüssigkeit, äußert sich das nicht nur in einem unangenehmen Durst und verstärktem Hungergefühl. Kopfschmerzen und Übelkeit sind häufige Symptome. Der Blutfluss ist gemindert, der Blutdruck wird instabil, die Organe sind schlechter versorgt. Keine optimalen Startbedingungen für den Körper, dem der chirurgische Eingriff Höchstleistung abfordert.
Hinzu kommt, dass Stress zu einer erhöhten Insulinresistenz führt, sodass die Zellen weniger Energi aufnehmen. Und: Der Körper schaltet aufgrund der langen Nüchtern heit in den Fastenmodus. Um lebenswichtige Organe weiterhin mit Energie zu versorgen, greift er auf Zuckerreserven in Muskeln und Leber zurück. In dieser katabolen Stoffwechsellage wird Gewebe abgebaut – mit Folgen für den Wundheilungsprozess. Dieser läuft verlangsamt. „Flüssigkeiten mit Kohlenhydraten – etwa gesüßte Tees, Saftschorlen oder Carbodrinks – wirken dieser ungünstigen Entwicklung entgegen“, betont Kubitz. „Die Getränke versorgen den Organismus mit Energie, in einer Situation, in der er dies dringend braucht.“
Gelockerte Nüchternheitsregeln verbessern laut Studien das Wohlbefinden der Patienten und können postoperative Komplikationen verringern. „Der Abbau von Gewebe wird verhindert, die Insulinresistenz reduziert, Übelkeit und Erbrechen nach der OP treten seltener auf“, sagt Kubitz. „Das verbessert die Voraussetzungen für eine Genesung.“
Gelten die Regeln für alle Patienten?
Menschen mit einer gestörten oder verzögerten Magen-Darm-Passage sollten entsprechend der Leitlinie zwei Stunden vor OP-Beginn nichts mehr trinken. Dies kann der Fall sein bei Refluxerkrankungen, bei Hernien im Magen oder aufgrund der Einnahme bestimmter Medikamente, zum Beispiel des GLP 1 Agonisten Semaglutid. Notfallpatienten dürfen ab Einlieferung in die Klinik nichts mehr zu sich nehmen. Einige Darmoperationen können spezielle Nüchternheitsregeln nötig machen. Der Großteil der Patienten allerdings kann gemäß den neuen Regeln agieren.
Welche Patientengruppe profitiert am stärksten?
Das Vermeiden eines Flüssigkeitsmangels ist für ältere Menschen sehr wichtig. Sie dehydrieren schneller. Damit steigt das Risiko für Verwirrtheit nach der OP, für Nierenversagen und eine Vielzahl anderer Komplikationen. Sie müssen länger im Kranken haus bleiben, die Sterblichkeit steigt (siehe Grafik rechts).
Klinikliste 2026
FOCUS-Gesundheit 05/25
Dieser Artikel ist eine gekürzte Version. Den vollständigen Artikel finden Sie in der Ausgabe Klinikliste 2026 von FOCUS-Gesundheit. Weitere Themen:Die RNA-Medizin bietet die Chance, bisher unheilbare Krankheiten zu behandeln. Modernste Diagnostik revolutioniert die Medizin. Plus: Deutschlands Top-Kliniken.
Und wie funktioniert das Konzept praktisch?
„Die Vorstellung, es sei gut, ab dem Abend vor der OP nüchtern zu bleiben, ist tief verwurzelt – bei Patienten, deren Angehörigen und auch beim Klinikpersonal“, sagt Kubitz. Häuser, die das neue Konzept umsetzen, verwenden „Nüchtern“ Schilder in den Ampelfarben. Grün für Patienten, die bis zum Schluss trinken dürfen, Orange für solche, die ab zwei Stunden vor der OP abstinent bleiben sollen, Rot für Notfallpatienten. Damit ist auf den Stationen für jeden klar ersichtlich, welche Regeln jeweils gelten.
„Ein Mind-Change braucht Zeit“, sagt Kubitz. „Aber die neuen Nüchternheitsregeln sind ein Fortschritt, sie verbessern die Zufriedenheit und die Patientensicherheit.“