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Mehr als 3.000 Medizinprodukte, 40 neue Medikamente und zehn neue Impfstoffe wurden in Deutschland dieses Jahr bereits zugelassen. Darunter das erste Mittel, das den Verlauf von Morbus Alzheimer verzögern kann, sechs Wirkstoffe gegen die häufigste Form von Lungenkrebs und ein angepasster Covid-Impfstoff. Aber auch intelligente Herzschrittmacher, neuartiges Verbandsmaterial, Apps für Menschen mit Typ-2-Diabetes und chirurgische Roboter kamen hierzulande neu auf den Markt.
„Wenn es um klinische Studien geht, denken die meisten Menschen nur an Medikamente, aber das Feld ist viel umfassender“, sagt Joachim Schuster, Leiter des klinischen Studienzentrums der Neurologischen Universitätsklinik in Ulm. Ob neue Operationstechniken, Biomarker, Medizinprodukte, digitale Anwendungen oder Diagnoseverfahren – was bei der Behandlung von Erkrankten zum Einsatz kommt, wird vorab ausführlich und nach strengen Vorgaben getestet. Medikamente sind dabei ein besonders relevantes Feld: Wo stünden wir heute ohne Antibiotika, Blutdrucksenker, Chemotherapien, Schmerzmittel und Impfstoffe?
„Klinische Studien sind wichtig, um herauszufinden, welche Medikamente wirksam und sicher sind“, sagt Schuster, der seit vielen Jahren Studien im Bereich der Neurologie organisiert: „Wir versuchen, die Behandlung neurologischer und insbesondere neurodegenerativer Erkrankungen wie beispielsweise amyotropher Lateralsklerose, Chorea Huntington, verschiedener Formen von Demenz oder auch Parkinson zu verbessern“, erklärt er.
Bevor neue Medikamente in Studien mit Menschen getestet werden können, sind allerdings viele Schritte notwendig. Zunächst müssen die Ergebnisse aus Labor- und Tierversuchen vielversprechend genug sein, um den Übergang in die klinische Forschung zu rechtfertigen.
Strenge Kontrolle: Jeder Schritt ist zu dokumentieren
Die Chancen dafür sind ziemlich gering: Von etwa 10.000 untersuchten Wirkstoffen schaffen es statistisch nur fünf bis zehn in die klinische Prüfung, also zur Testung an Menschen. Für diese Wirkstoffe muss zunächst ein Studienprotokoll erstellt werden, das die geplanten Abläufe genau festhält und ganz wesentliche Fragen beantwortet: Was genau soll die geplante Studie untersuchen? Wie wird sie aufgebaut sein? Welche Daten werden erhoben? Wer hat Zugriff darauf? Welche Personen dürfen an der Studie teilnehmen und welche nicht? Wie werden die Ergebnisse später ausgewertet?
„Dieses Protokoll muss dann von einer unabhängigen Ethik-Kommission Zustimmung finden und von der zuständigen Behörde genehmigt werden“, erklärt der Ulmer Experte Schuster das Vorgehen. In Deutschland ist das meist das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Schon mit der Genehmigung wird die Studie obligatorisch in das EU-Studienregister eingetragen, ein Eintrag im Deutschen Register Klinischer Studien (DRKS) ist freiwillig.
Auch nach dem Start einer Studie bleibt sie streng kontrolliert: Jeder Schritt wird dokumentiert, regel- mäßig finden Überprüfungen statt – etwa durch Auftraggeber, beteiligte Kliniken, Behörden oder externe Prüfer. Dies soll sicherstellen, dass alle Abläufe den gesetzlichen und wissenschaftlichen Vorgaben entsprechen. „Die Standards für klinische Studien sind in Deutschland sehr hoch, und die Patientensicherheit hat oberste Priorität“, betont Schuster.
Hohe Teilnahmebereitschaft – und trotzdem Schlusslicht
Trotzdem zählt Deutschland europaweit zu den Schlusslichtern, was die Teilnehmerzahlen angeht. Auf eine Million Einwohner kommen hier nur etwa 1.500 Teilnehmende. Zum Vergleich: Beim Spitzenreiter Dänemark sind es 29.000. Das liegt zum einen daran, dass es hierzulande weniger Angebote für Probanden gibt. Derzeit werden bei uns pro Jahr rund 800 Studien registriert. Damit kommen auf eine Million Einwohner 33 Studien. In Dänemark sind es 192, in Belgien 147 und in der Schweiz 97.
Die Teilnahmebereitschaft an sich ist in Deutschland durchaus hoch, wie eine aktuelle Umfrage der Pharmaverbände BPI und vfa zeigt: Rund 45 Prozent der Menschen wären dazu bereit. Sie erhoffen sich Heilung oder Linderung, den Zugang zu neuen Behandlungen oder möchten den medizinischen Fortschritt unterstützen. „Vielen ist bewusst, welche Vorteile eine Studienteilnahme bieten kann“, sagt Schuster, der diesbezüglich ein Umdenken beobachtet hat. Wo früher oft Skepsis und Sorge herrschten, sehen die Menschen heute eher die Chancen. „Manche nehmen sogar lange Anfahrtswege in Kauf, um an einer Studie teilnehmen zu können“, berichtet der Experte.
Doch es hapert immer wieder daran, motivierte Patienten und die Forschung zusammenzubringen. Die Suche nach der passenden Studie, sagt Thorsten Ruppert vom Verband Forschender Arzneimittelhersteller, ähnele jener nach der Nadel im Heuhaufen: „Da besteht viel Verbesserungsbedarf. Wir müssten die Patienten besser informieren und lotsen sowie Studienzentren, Kliniken und Mediziner stärker miteinander vernetzen.“
Die Bevölkerung fühlt sich tatsächlich schlecht informiert. Nur 26 Prozent schätzen ihr Wissen über klinische Studien als gut ein, der Rest hat Lücken. „Das sorgt für Unsicherheit“, so Ruppert, zumal es nur wenige patientengerechte Informationen gebe.
Den Überblick zu behalten, ist selbst für Mediziner schwierig
Die Onkologin Lena Weiss vom Krebszentrum des LMU Klinikums München sieht das ähnlich: „Selbst für uns als Mediziner ist es schwierig, den Überblick zu behalten, welche Studien an welchem Standort Teilnehmer suchen.“ Auch, weil gerade die Krebsforschung sehr komplex sei: Welche Mutation liegt vor? Welche Tumorgröße? Hat der Krebs schon metastasiert? Welche Behandlungen sind erfolgt? Oft muss im Einzelfall entschieden werden, ob jemand als Proband geeignet ist. Die Expertin rät Patienten daher, ihren behandelnden Arzt direkt nach Studien zu fragen und sich im Zweifel eine Zweitmeinung in einer Universitätsklinik oder in einem Behandlungszentrum mit eigenen klinischen Studien einzuholen.
Weiss ist in der Early Clinical Trial Unit des Krebszentrums für Phase-I-Studien verantwortlich. In aller Regel werden Medikamente in verschiedenen Phasen geprüft. „Unsere Studien sind hauptsächlich für Patienten interessant, die nicht auf bestehende Therapien ansprechen“, erklärt Weiss. Studien können dann eine Möglichkeit sein, um schneller an innovative Wirkstoffe zu kommen. Immerhin dauert es im Schnitt etwa 13 Jahre, bis ein neues Medikament zugelassen wird.
Dieser Vorteil wiegt auch bei Erkrankungen, für die es bislang noch keine Therapien gibt. „Das Szenario kommt im Bereich der neurodegenerativen Erkrankungen häufiger vor“, sagt Joachim Schuster von der Universitätsmedizin Ulm und betont noch einen anderen Vorteil: „Wer an Studien teilnimmt, wird engmaschig medizinisch überwacht.“ Das sei mit Aufwand verbunden, aber zugleich mit Sicherheit: Gesundheitliche Veränderungen oder ungewöhnliche Laborwerte fallen bei Teilnehmenden schneller auf, Patienten haben jederzeit Ansprechpartner und werden intensiver betreut, als es sonst möglich wäre.
Das gilt nicht nur für schwerwiegende Erkrankungen wie Krebs oder Alzheimer. Es braucht auch neue Medikamente gegen chronische Erkrankungen wie Neurodermitis, Diabetes, rheumatoide Arthritis oder Asthma. Oder bessere Möglichkeiten, Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie erhöhte Blutfettwerte und Bluthochdruck zu behandeln. 2026 zum Beispiel könnten die ersten Medikamente zur Senkung von Lipoprotein a zugelassen werden. Das Blutfett erhöht das Risiko für Atherosklerose, Schlaganfall und Herzinfarkt. Bisher lässt es sich nur messen, aber nicht behandeln.
Klinische Studien in vier Phasen
Nach erfolgreich abgeschlossener Phase III erfolgt die Zulassung.
- P H A S E I: Nach Labor- und Tierversuchen geht es um die Verträglichkeit und Sicherheit eines neuen Wirkstoffs. Getestet werden unter anderem Nebenwirkungen und wie der Körper den Wirkstoff verstoffwechselt. Gesunde oder erkrankte Menschen können teilnehmen. Die Probandenzahl ist geringer als in allen folgenden Phasen.
- P H A S E II: Nun wird der Wirkstoff an erkrankten Personen getestet, es geht vorrangig um die Wirksamkeit und die Dosierung. Jetzt gilt es zu untersuchen, ob ein Medikament wie gewünscht wirkt, wie verträglich es ist, welche Dosis optimal ist – und ob es Vorteile gegenüber der Standardtherapie hat.
- P H A S E III: Das Medikament hat seine Wirksamkeit bewiesen. Nun geht es darum, die Ergebnisse mit einer großen Zahl unterschiedlicher Patienten abzusichern. Was dabei herauskommt, ist entscheidend für die Zulassung.
- P H A S E IV: Das Medikament ist zugelassen, nun geht es um die Langzeitbeobachtung: Gibt es seltene Nebenwirkungen, die bisher nicht aufgefallen sind? Die Anwendung wird über Jahre in verschiedenen und sehr großen Patientengruppen untersucht.
Reichlich Bürokratie und eine schleppende Digitalisierung
Damit die Forschung in Deutschland wieder schneller vorangehen kann, müsste jedoch zunächst behoben werden, was sie ausbremst. „Deutschland hat seinen Spitzenplatz in der klinischen Forschung verloren“, sagt Biologin Doris Henn, die für den Pharmakonzern AstraZeneca Studien in Deutschland, Österreich und der Schweiz plant. Neben Mängeln bei der Aufklärung, Information und Einbindung von Patienten nennt Henn als Hindernisse: „Reichlich Bürokratie, schleppende Digitalisierung, Fachkräftemangel, föderale Strukturen und Schwierigkeiten bei der Übertragung von Grundlagenforschung in die medizinische Praxis.“ In anderen Ländern hätten Mediziner und Patienten Studien eher als Behandlungsoption auf dem Radar. Selbst Hausärzte verweisen Patienten dort oft an spezialisierte Zentren.
Auch die Sorgen der Menschen würden besser adressiert. „Viele haben zum Beispiel Angst vor Nebenwirkungen, können den Aufwand einer Studienteilnahme nicht einschätzen oder befürchten, in eine unseriöse Studie zu geraten“, so Henn.
Bis hierzulande nachgebessert wurde, rät sie zu Eigeninitiative. An erster Stelle sieht auch sie das Gespräch mit Ärzten, helfen könnten zudem medizinische Fachverbände oder Patientenorganisationen. Die Gefahr, in Deutschland an unseriöse Studien zu geraten, hält Henn für sehr gering: „Wurde eine Studie durch die Behörden genehmigt und in einem deutschen oder europäischen Register aufgeführt, ist diese Sorge unbegründet.“
So finden Sie die passende Studie
- Der erste Ansprechpartner sollte Ihr behandelnder Arzt sein. Scheuen Sie sich nicht, nach Studien zu fragen – es ist ein Zeichen von Qualität, wenn Kliniken Studien durchführen und über Studien anderswo informiert sind. Beteiligte Kliniken, Praxen und Universitätskliniken haben oft eigene Anlaufstellen. Auch medizinische Fachgesellschaften und Patientenverbände helfen weiter.
- Online finden Sie auf einer Karte der EU-Behörde Studien in Ihrer Nähe (euclinicaltrials.eu/search-for-clinical-trials/trial-map). Für Krebspatienten sind der Krebsinformationsdienst und der Studienlotse Iuvando gute Informationsquellen.
Klinikliste 2026
FOCUS-Gesundheit 05/25
Dieser Artikel ist eine gekürzte Version. Den vollständigen Artikel finden Sie in der Ausgabe Klinikliste 2026 von FOCUS-Gesundheit. Weitere Themen:Die RNA-Medizin bietet die Chance, bisher unheilbare Krankheiten zu behandeln. Modernste Diagnostik revolutioniert die Medizin. Plus: Deutschlands Top-Kliniken.
Die medizinische Versorgung für alle verbessern
Ein wichtiges Merkmal guter Studien sei zudem ein umfassendes ärztliches Aufklärungsgespräch, in dem Chancen und Risiken mit den potenziellen Probanden ausführlich besprochen werden. Überhaupt sei die Qualität der Durchführung von Studien und mit ihnen gewonnener Daten in Deutschland hoch und international anerkannt. Das Problem sieht auch Henn eher darin, Interessierte und Studien zusammenzubringen: „Würde man Patienten besser abholen, hätten mehr Menschen die Chance, früh von neuen Therapien zu profitieren – und nebenbei die medizinische Versorgung für alle zu verbessern“, so die Biologin.
Solche gemeinnützigen Motive spielen für viele eine Rolle; jeder Dritte hat bei einer Studienteilnahme mehr als den eigenen Nutzen im Blick. Henn bringt es auf den Punkt: „Um die Medizin von morgen mitzugestalten, sind wir alle gefragt.“