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Persönlichkeitsakzentuierungen: Was ist (schon) gestört?

Eigenschaft, Akzentuierung, Störung – Psychotherapeutin Franca Cerutti klärt auf, was unsere Persönlichkeit ausmacht. Und wie wir sie zu unserem Vorteil nutzen können.

Geprüft von , Medizinredakteurin

Veröffentlicht: 2025-10-09T14:49:31+02:00

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Franca Cerutti, Diplom-Psychologin, Autorin und Psychotherapeutin mit eigener Praxis am Niederrhein. Im Podcast „Psychologie to go!“ klärt sie über Themen rund um Psychologie auf. 

Frau Cerutti, ab wann ist eine Persönlichkeit „gestört“?

Persönlichkeitsstörungen werden diagnostiziert, wenn bestimmte Verhaltens- und Denkmuster über einen längeren Zeitraum bestehen, in verschiedenen Lebensbereichen, wie zum Beispiel Arbeit oder Beziehungen, auftreten und zu erheblichem Leidensdruck oder Beeinträchtigungen führen.

In der Psychologie und Psychiatrie vollzieht sich jedoch zunehmend ein Paradigmenwechsel: Anstelle einer strikten Kategorisierung nach dem Motto „Er/Sie hat eine Störung“ wird Persönlichkeit heute stärker dimensional verstanden. Das bedeutet: Zwischen „gesund“ und „gestört“ existiert ein Kontinuum mit vielen Zwischenstufen.

In der ICD-11, die 2022 offiziell in Kraft trat, wird dieses dimensionalere Verständnis berücksichtigt. Persönlichkeitsstörungen werden dort nicht mehr primär nach spezifischen Typen wie „narzisstische“ oder „emotional-instabile“ Persönlichkeitsstörung eingeteilt. Stattdessen erfolgt die Diagnose über die Schwere der Beeinträchtigung – leicht, mittel oder schwer – sowie über Zusatzspezifizierungen.  

In der International Classification of Diseases (ICD) wird in folgende Zusatzspezifizierungen unterschieden:

  • Negative Affektivität (Erleben vieler negativer Emotionen)
  • Dissozialität (Verantwortungslosigkeit, ein Mangel an Empathie)
  • Disinhibition (Enthemmung)
  • Anankastie (Perfektionismus, Starrheit)
  • Distanzierung (emotionale Zurückhaltung).

Bei eher leichten Ausprägungen spricht man jedoch eher von einer Persönlichkeitsakzentuierung, die noch nicht als behandlungsbedürftige Störung gilt.

 

Was sind Persönlichkeitsakzentuierungen? 

Wir alle haben verschiedene Charaktereigenschaften. Einige Menschen sind etwa auffallend fröhlich, andere vielleicht besonders vorsichtig. 

Von einer Persönlichkeitsakzentuierung spricht man dann, wenn diese Eigenschaft überdurchschnittlich ausgeprägt ist und quasi dauerhaft zum Vorschein kommt. Wenn eine Person zum Beispiel in jeder Situation übervorsichtig ist – ohne, dass es einen Anlass oder Grund dafür gibt. Oder jemand immer sehr dominant auftritt, auch wenn es unpassend ist. 

Persönlichkeitsakzentuierungen sind nicht grundsätzlich problematisch. Kritisch wird es, wenn sie so stark ausgeprägt sind, dass sie für die Person selbst oder für andere belastend werden. Das kann dann auf eine Persönlichkeitsstörung hindeuten. 

Akzentuierung, Störung – Was ist der Unterschied?

  • Persönlichkeitsakzentuierung: Eine stark ausgeprägte Persönlichkeitseigenschaft, die jedoch nicht zwangsläufig problematisch ist. Sie kann je nach Kontext sowohl Vorteile als auch Nachteile haben.
  • Persönlichkeitsstörung: Ein überdauerndes Muster von Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen, das in verschiedenen Lebensbereichen auftritt und zu erheblichem Leidensdruck oder Beeinträchtigungen führt. 

 

Woher kommen diese Ausprägungen unserer Persönlichkeit?

Sie sind häufig als „Lösung“ für frühere Probleme entstanden. Ein Beispiel: Für die heute zwanghaft handelnde Person, war es früher vielleicht hilfreich, immer Ordnung und Struktur zu bewahren, da sie in einem sehr chaotischen Haushalt großgeworden ist. Diese Eigenschaft hat also eine Funktion erfüllt. In der Therapie geht es dann darum, diesen Mustern etwas entgegenzusetzten – sofern sie die Person oder ihr Umfeld belasten. 

 

Lässt sich eine Persönlichkeitsstörung gut behandeln?

In der Regel ja. Lange Zeit galt die Annahme, dass Persönlichkeitsstörungen unveränderlich seien – nach dem Motto: „So bin ich eben, und so bleibt das.“ Heute wissen wir, dass diese Muster zwar stabil und überdauernd sind, aber dennoch veränderbar. Unsere Persönlichkeit ist nicht in Stein gemeißelt.

 

Müssen Persönlichkeitsakzentuierungen ebenfalls behandelt werden? 

Das kommt auf den individuellen Leidensdruck an. Der Übergang von einer starken Akzentuierung zu einer Persönlichkeitsstörung ist fließend – eher ein Verlauf als eine klare Grenze. 

 

Wie erkennt man eine Akzentuierung an sich selbst?

Indem man sich beobachtet. Überlegen Sie sich, wie Sie sich in Gruppen verhalten, welche Rollen Sie einnehmen oder welche Situationen Ihnen unangenehm sind. Auch das Verhalten in romantischen Beziehungen kann Hinweise geben – etwa ob Sie leicht vertrauen oder eher misstrauisch sind.

Wenn Sie feststellen, dass Sie sich durch ein bestimmtes Muster in Ihrem Denken oder Handeln belastet fühlen, kann es sinnvoll sein, therapeutische Unterstützung zu suchen.

 

Können Persönlichkeitsakzentuierungen auch positiv für uns sein?

Ja, Persönlichkeitsakzentuierungen können durchaus Vorteile haben. Menschen mit einer eher zwanghaften Ausprägung sind oft sehr gründlich und genau. In Berufen, die Präzision und Ordnung erfordern, ist das eine wertvolle Eigenschaft. 

Menschen mit einer histrionischen Akzentuierung, umgangssprachlich würde man vielleicht „dramatisch-emotional“ sagen, sind oft charismatisch, kreativ und ausdrucksstark. Sie finden sich häufig in künstlerischen Berufen wie Schauspiel oder Tanz wieder. Narzisstisch geprägte Menschen können ehrgeizig und führungsstark sein. Denn sie scheuen sich nicht davor, Verantwortung zu übernehmen – Eigenschaften, die in Führungspositionen gefragt sind.

Und ein gesundes Maß an Misstrauen – sprich eine eher paranoide Akzentuierung – kann in Berufen wie der Kriminalistik hilfreich sein, da es dazu beiträgt, Dinge kritisch zu hinterfragen. 

 

Es kommt also immer auf den Kontext an?

Richtig. Was in einer Situation als Stärke wahrgenommen wird, kann in einer anderen als Schwäche gelten. Es ist dabei aber wichtig zu verstehen, dass Persönlichkeitsakzentuierungen Teil unserer Einzigartigkeit sind. Niemand liegt mit seiner Persönlichkeit „perfekt in der Mitte“. Und das ist auch gut so. 

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Wichtiger Hinweis

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