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Überdimensionierte Schachfiguren markieren heute Birgit Rauers Trainingsstrecke. Langsamen Schrittes soll die Rehapatientin im Slalom über einen Pflastersteinweg schreiten. Ein Blick zur Physiotherapeutin, ein zustimmendes Nicken, und sie geht los. Im Gesicht der 70-Jährigen spiegelt sich die Konzentration. Bewusst setzt sie die rechte Ferse auf den Boden, rollt den Fuß über den Mittelfuß bis zu den Zehen ab, hebt währenddessen das linke Bein und schwingt es nach vorn. Ferse aufsetzen und weiter. Standphase, Schwungphase, Fußstellung, Schrittlänge – im Kopf rattert die Theorie, während Rauer etwas scheinbar völlig Alltägliches macht: Sie geht. Endlich ist die Strecke geschafft. Physiotherapeutin Cornelia Kébreau ist zufrieden mit dem Slalomlauf der Patientin. Nur eine Kleinigkeit korrigiert sie. Die Fußspitzen zeigen noch leicht nach außen. Für Rauer ist das ein Erfolg – täglich klappt es besser. Die Zeit, als ihr jeder Schritt schwerfiel, ist endlich vorbei.
Einen Fuß vor den anderen setzen ist ein komplexer Prozess
Rauer ist eine von 40 Patienten, die nach einer Endoprothesen-Operation an Hüfte oder Knie nun in der Gangschule der Bremer Mediclin Reha-Klinik am Sendesaal ihre Beweglichkeit zurückerlangen wollen. Die meisten haben aufgrund jahrelanger Schmerzen ein Schonverhalten entwickelt und sind dadurch aus dem Tritt gekommen. In der Gangschule erlernen sie die Grundlagen des sicheren Gehens.
Zwei- bis viermal pro Woche trainieren die Patienten im Rahmen ihrer orthopädischen Reha den natürlichen Gang. Sie üben das Vorwärts- und Seitwärtsgehen, das Knieheben beim Gehen, den Zickzackgang, das Gehen auf unebenen, instabilen Flächen und weite Ausfallschritte. Sie stärken ihre Muskelkraft, verbessern ihre Koordination und trainieren ihre Ausdauer. Alles unter dem kontrollierenden Blick von Physiotherapeuten.
Das Wissen über die natürliche Bewegung des Fußes vermittelt in der Rehaklinik am Sendesaal die Physiotherapeutin Kersten Grupe. Sie erklärt, wie das genau funktioniert mit dem Gehen. „Der Fuß setzt sanft mit der Außenkante der Ferse auf und rollt diagonal über den großen Zeh ab, die Arme schwingen leicht, um die Balance zu gewährleisten. Kopf und Beine sind geradeaus gerichtet, die Körperhaltung aufrecht.“ Damit nicht genug. Auch die Schrittlänge, also den Abstand von hinterer Ferse zu vorderer Ferse, gilt es zu beachten. Bei einem Erwachsenen unter 1,70 Meter Körpergröße sollte die Schrittlänge etwa 60 Zentimeter betragen, bei größeren Menschen rund 70 Zentimeter. Zu weite oder zu kurze Schritte belasten die Hüft-, Knie- und Fußgelenke stärker. Trippelschritte wiederum erhöhen die Sturzgefahr.
Da jeder Patient seine eigenen Probleme mit der Fortbewegung hat, beginnt die Reha mit einer Ganganalyse. „Ich erkenne meist sofort, was schiefläuft“, sagt Grupe. Für die Untersuchung schreiten die Patientinnen und Patienten barfuß durch den Raum, die Therapeutin beobachtet, wie sie sich bewegen.
Gehen ist weit mehr, als einen Fuß vor den anderen zu setzen, es ist ein komplexer Prozess. Dieser besteht aus einer Standbeinphase, in der beide Füße am Boden sind, und einer Spielbeinphase, in der sich der andere Fuß durch die Luft bewegt. „Beide Phasen sollten fließend und symmetrisch ablaufen“, so Grupe.
Auch die Fußstellung ist wichtig. Die Physiotherapeutin achtet darauf, ob ein Patient den Fuß falsch belastet – etwa mit dem Ballen zuerst aufsetzt –, ihn zu wenig anhebt und schlurft, über die Fußinnenkante läuft oder humpelt. Ob er Senk- oder Spreizfüße hat, deutlich unterschiedliche Beinlängen oder das Knie nur wenig beugt.
„Jeder Gangfehler wirkt sich auf das gesamte Skelett- und Muskelsystem aus“, weiß Kerstin Gliesche, Orthopädin und Chefärztin der Bremer Rehaklinik. Wird der Fuß beim Gehen nicht abgerollt, sondern platt aufgesetzt, treffen Ferse, Mittel- und Vorderfuß gleichzeitig auf den Boden. Die Stoßkräfte übertragen sich so ungedämpft auf Sprung-, Knie- und Hüftgelenke sowie die Lendenwirbelsäule. Das kann auf Dauer einen Verschleiß in den Gelenken, also eine Arthrose, fördern. Zudem wird die Muskulatur der Fußsohle bei jedem Auftreten zu stark belastet, die Wadenmuskulatur wiederum kommt kaum zum Einsatz, weil sie nicht für ein Abrollen des Fußes gebraucht wird. Das kann zu Muskelverkürzung in der Wade führen. Da der Gang zudem stampfend ist, wird mehr Kraft beim Gehen benötigt, was zu einem schnelleren Ermüden führt.
Den Gang analysieren, Fehler korrigieren
Viele Patienten klagen über chronische Knie- oder Rückenschmerzen. Auf die Idee, dass ihr Gang dafür verantwortlich sein könnte, kommt kaum jemand. „Gangfehler erkennen wir eigentlich nie selbst, es sind meist Partner oder Freunde, die darauf aufmerksam machen, etwa weil ihnen das Schlurfen auffällt“, weiß Orthopädin Gliesche. Eine Selbstüberprüfung im Spiegel bringe nichts. „Eine Analyse des eigenen Gangs kann man nicht selbst durchführen, dafür braucht es den Profiblick und das Wissen von Physiotherapeuten oder Orthopäden“, betont sie.
Wolfgang Majdan weiß genau, wovon die Ärztin spricht. Den Bremer plagte jahrelang eine Arthrose im rechten Knie. Um die Schmerzen zu verringern, drückte er das Gelenk nicht mehr durch, sondern schritt mit dem gesunden Bein möglichst lang aus, humpelte – und verschlimmerte sein Arthroseproblem. „Da ich bei einer Größe von 1,97 Meter lange Beine habe, ist mir gar nicht aufgefallen, dass meine Schritte zu weit sind“, sagt er. Infolge der ständigen Überbelastung entwickelte sich auch im linken Bein eine Arthrose. Inzwischen hat er zwei künstliche Knie, das linke wurde kürzlich operiert. Gehen läuft schon wieder besser. Wegen der permanenten Fehlbelastung muss Majdan nun die Muskulatur in den Beinen stärken. Im Fitnessraum der Klinik drückt er auf der Beinpresse 45 bis 50 Kilo schwere Gewichte mit den Füßen weg. Auch Stufensteigen auf dem Stepper, Kniebeugen, Pendeln des Beins und das Balancieren auf einem Bein, stehen auf dem täglichen Sportprogramm. Stolz legt Majdan die Hände auf seine Oberschenkel. Nach drei Wochen Training spürt er deutlich, dass die Muskeln kräftiger geworden sind.
Birgit Rauer ist noch beim Training draußen im Bewegungsgarten. Sie geht Anhöhen hoch und Treppen hinunter. Für sie, die lange Zeit wegen der Hüftarthrose Stufen weitgehend gemieden hat, ist das eine wichtige Etappe. Jetzt steht sie vor einem umrahmten kleinen Feld, das mit Rindenmulch aufgefüllt und etwas tiefer ist. Hier geht es nun ums Feintuning. Rauer setzt den Fuß vorsichtig auf den weicheren Boden, sackt leicht ein und läuft mit festem Schritt bis zum Ende. „Ein unebener und weicher Untergrund ist eine Herausforderung für unsere Füße, denn sie müssen auf den Höhenunterschied und das Einsacken reagieren“, sagt Physiotherapeutin Kébreau. Dafür ist mehr Koordination und Gleichgewicht notwendig als auf stabilem, glattem Untergrund. Ein Spaziergang am Strand, bei dem man leicht in den Sand einsinkt, ist deutlich anstrengender als ein Flanieren auf der asphaltierten Promenade. „Für die Füße ist der Sand zu bevorzugen, weil er gut für das Muskel- und Sinnestraining ist“, sagt die Therapeutin. Empfehlenswert ist deshalb auch, ab und zu mal barfuß über eine Wiese zu gehen. Zurück zur Natur tut den Füßen gut.

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Ist die Fortbewegung korrekt, läuft es insgesamt besser
Der Körper verzeiht. „Wer seinen falschen Gang korrigiert, fördert die Regeneration der fehlbelasteten Bereiche und kann Schäden beheben oder zumindest verbessern“, sagt Chefärztin Gliesche. Zur Veranschaulichung beschreibt sie, was passiert, wenn der Fuß nicht mehr platt, sondern korrekt aufgesetzt wird: Das natürliche Abrollen kräftigt die Fußmuskulatur, dehnt und stärkt die Wadenmuskulatur und vermeidet eine Überlastung der Sehnen. Ein solcher Bewegungsablauf dämpft die Stoßkräfte, wodurch Sprung-, Knie- und Hüftgelenke sowie die Bandscheiben entlastet werden. Der Gang wird flüssiger und benötigt weniger Kraftaufwand. Und schließlich wird die Körperhaltung besser, wenn es beim Gehen rundläuft.
Auch was den Fuß kleidet, spielt eine Rolle. „Bei einem Senk- oder Spreizfuß sollte man immer Einlagen im Schuh verwenden“, rät die Chefärztin. Diese stabilisieren den Fuß und verhindern eine asymmetrische Belastung des Bewegungsapparats. Ist der Längenunterschied zwischen den Beinen größer als ein Zentimeter, sollte eine Erhöhung im Schuh getragen werden. Und letztlich sind gut sitzende, bequeme Schuhe das A und O für einen gesunden Laufstil. Denn Füße können sich nur dann optimal bewegen, wenn die Schuhe genügend Platz und gleichzeitig stabilen Halt geben. Wer häufig High Heels getragen hat und dadurch einen schlechten Gang gewohnt ist, kann sich mithilfe von Abrollschuhen den natürlichen Bewegungsablauf wieder antrainieren.
Schlussendlich ist der richtige Gang auch Kopfsache. „Unsere Bewegungsabläufe speichern wir im Langzeitgedächtnis, vor allem im impliziten Gedächtnis, das für jene Aktivitätsmuster zuständig ist, die unbewusst ablaufen, wie Radfahren, Schwimmen und auch Gehen“, erklärt Gliesche. Sie empfiehlt den Patienten, sich nicht nur beim Sport, sondern auch im Alltag immer mal wieder auf das Gehen zu konzentrieren: Trete ich gerade zu fest auf? Rolle ich den Fuß gut ab? Schwingen die Arme gleichmäßig mit? Je öfter man richtig geht, desto mehr verinnerlicht man den korrekten Gang. Bis dahin heißt es: üben, üben, üben.