Digitale Hilfsmittel sollen eine bessere medizinische Versorgung ermöglichen. Wo die Reise hingeht – und warum seriöse Patientenaufklärung immer wichtiger wird.
Eigentlich hätte der Arzt die Patientin erst in zwei Monaten zum Check-up gesehen. Doch dann poppt auf seinem Smartphone eine dringende Nachricht auf: Der Herzerkrankten geht es bedenklich schlechter. Absender der Information ist künstliche Intelligenz. Ein Algorithmus hat die täglich in einer App erfassten Blutdruckwerte der Patientin automatisch ausgewertet und schlägt Alarm. In einer individuell auf die Anwenderin zugeschnittenen elektronischen Patientenakte kann der Arzt auf einen Blick sehen, welche Medikamente die Frau einnimmt, und bekommt einen Vorschlag, wie sie angepasst werden können. Eine Maßnahme, die möglicherweise lebensrettend ist.
Das Szenario ist ein Blick in die Zukunft, aber längst keine Science-Fiction mehr. Die technologischen Voraussetzungen sind da, und die Politik zieht nach. Mitte Dezember 2023 hat der Deutsche Bundestag das „Gesetz zur Beschleunigung der Digitalisierung des Gesundheitswesens“ beschlossen und damit den Weg für einen Umbruch in der medizinischen Versorgung weiter geebnet – mit großen Chancen, aber auch einigen Herausforderungen für Patienten und Ärzte.
Arzt und Patient in neuen Rollen
„In fünf bis zehn Jahren wird es viel mehr Monitoring geben, wovon insbesondere Patienten mit chronischen Erkrankungen profitieren werden“, prognostiziert Jochen Werner, Ärztlicher Direktor der Universitätsmedizin in Essen und Buchautor („Der smarte Patient: Digitalisierung macht dich gesund“). „Denn um gesundheitliche Probleme rechtzeitig zu beseitigen, muss man sie frühzeitig erkennen.“ Bereits heute hilft künstliche Intelligenz Ärzten bei der Diagnosestellung. Etwa wenn ein Algorithmus auf den MRT-Aufnahmen von Patienten mit Multipler Sklerose nach Entzündungsherden sucht. Oder bei der Auswertung großer EKG-Datenmengen in der Kardiologie. Maschinelle Analysen ermöglichen unter anderem genauere Aussagen darüber, ob bestimmte Herzrhythmusstörungen ein Problem verursachen werden. Digitale Apps auf Rezept (DiGAs) verbessern nachweislich Symptome oder fördern die Genesung.
Gleichzeitig werden Patientinnen und Patienten mehr und mehr zu ihren eigenen Gesundheitsmanagern. Sie stehen vor der Aufgabe, aus einer Vielzahl von digitalen Gesundheitsangeboten die seriösen und qualifizierten herauszufiltern. Im Rahmen der elektronischen Patientenakte bestimmen sie selbst, wer ihre persönlichen Gesundheitsdaten sehen darf. Um richtig zu entscheiden und optimal betreut zu werden, braucht der Patient Kenntnisse über Krankheitsbilder und Verständnis für medizinische Zusammenhänge – oder anders gesagt: sachkundige und verständliche Informationen.
Aus welchen Gründen nutzen Sie Gesundheitsportale?
936 Personen zwischen 26 und 75 Jahren haben auf diese Frage geantwortet
Um schnell Auskünfte über Krankheiten zu bekommen: 78 %
Um gezielt nach Informationen zu auftretenden Symptomen zu suchen: 68 %
Um mich mit anderen Personen über ihre Erfahrungen und Ansichten auszutauschen: 58 %
Um mich über Medikamente/Therapien zu informieren: 45 %
Um mich über Ärzte und Kliniken zu informieren: 32 %
Quelle: Universitätsmedizin Mainz, 2023
Werbung
Die Datenfülle besser nutzen
Die elektronische Patientenakte (kurz ePa) steht seit Januar 2021 allen gesetzlich Versicherten auf Antrag zur Verfügung. Mediziner, Physiotherapeuten oder Apotheker können dort Informationen einstellen. Impfpass, Mutterpass, Zahnbonusheft und Co. lassen sich digital verwalten, zusätzliche Messergebnisse wie Blutdruck oder -zucker eintragen. Ein „Deckblatt“ liefert relevante Infos für den Notfall. Noch nutzt weniger als ein Prozent der Versicherten das Angebot. Unter anderem, weil die Antragstellung bei den Krankenkassen aufwendig und die Angst vor dem Missbrauch sensibler Daten hoch ist.
„Datenschutz ist wichtig, aber er darf den Gesundheitsschutz nicht verhindern“, sagt Digitalisierungs-Vorreiter Werner. „Wir nutzen in der Medizin nicht, was möglich wäre.“ Das immense medizinische Wissen sei ohne digitale Unterstützung kaum zu überblicken. Mit technischer Hilfe ließen sich bessere medizinische Ergebnisse erzielen – und mehr Freiräume für Ärzte schaffen. „Wenn der ganze administrative Teil bereits erledigt ist und die Diagnostik mit der Essenz aus allen Analysen auf dem Bildschirm erscheint, haben wir als Mediziner die vollen sechs Minuten, dem Patienten Ergebnis und Möglichkeiten zu erklären“, schildert Werner die Vorteile im Arzt-Patienten-Kontakt.
Das medizinische Wissen ist heute so groß, dass wir es nur mit digitaler Unterstützung umfänglich nutzen können.
Vorstandsvorsitzender und Ärztlicher Direktor der Universitätsmedizin Essen
Der Wunsch nach Aufklärung
Dass viele Patienten sich mehr Zeit und Erläuterungen wünschen, bestätigte die „HINTS Germany“-Studie der Stiftung Gesundheitswissen. Das Internet wurde in einer Untersuchung der Universität Köln als wichtiges Medium genannt, um Antworten auf Fragen zu finden, für die im ärztlichen Gespräch kein Raum war. Die Hälfte der Internetnutzer in Deutschland informiert sich mindestens einmal im Monat über Gesundheitsthemen im Web (Studie der Bertelsmann Stiftung). Die meisten nutzen Online-Lexika, Gesundheitsportale und Internetseiten der Krankenkassen. Bei ganz jungen Menschen zwischen neun und 18 Jahre stehen laut Barmer-Krankenkasse soziale Medien wie YouTube, Instagram oder WhatsApp auf Platz eins. „Ich finde es wichtig, das mitzugestalten, anstatt sich über Fehlinformationen auf Facebook und Co. aufzuregen“, sagt Werner.
Neues Nüchterheitskonzept: Einige Kliniken verkürzen die Zeiten der Nüchternheit vor einem chirurgischen Eingriff drastisch. Klinische Studien können Kranke frühzeitig in neue Therapien bringen. U.v.m. Plus: Deutschlands Top-Kliniken.
Dieser Artikel enthält allgemeine Hinweise und darf nicht zur Selbstdiagnose oder –behandlung
verwendet werden. Er kann einen Arztbesuch nicht ersetzen. Den passenden Arzt finden Sie über
unser Ärzteverzeichnis.
Im Sinne einer besseren Lesbarkeit unserer Artikel verwenden wir kontextbezogen
jeweils die männliche oder die weibliche Form. Sprache ist nicht neutral, nicht
universal und
nicht objektiv. Das ist uns bewusst. Die verkürzte Sprachform hat also ausschließlich
redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung. Jede Person – unabhängig vom
Geschlecht –
darf und soll sich gleichermaßen angesprochen fühlen.
Ähnliche Artikel
Podcast #83: Präziser, individueller, digitaler: Wie wir in der Zukunft gesünder sein können