
© Morsa Images / Getty Images
Die Halbgötter in Weiß sind Geschichte. Therapien werden heute nicht mehr von oben herab verordnet, sondern im besten Fall einvernehmlich vereinbart – und zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Ärzte zunehmend ihre Patienten. Hat eine Kardiologin bei Ihnen zum Beispiel einen Herzklappenfehler diagnostiziert, schlägt sie mehrere Behandlungsoptionen vor und möchte, dass Sie mit aussuchen, welche die geeignetste ist: Medikamente, eine künstliche Herzklappe oder eine größere OP. Welche dieser Möglichkeiten passt am besten zu Ihrem Leben?
„Shared Decision Making“ (SDM) nennt sich die gemeinsame Entscheidungsfindung von Arzt und Patient über die passende Behandlung. In der modernen Medizin ist SDM zunehmend etabliert – und markiert einen Paradigmenwechsel: vom vormals oft bevormundeten zum involvierten, kompetenten Patienten.
Studien zeigen viele Vorteile: Patienten, die die Entscheidung mittragen, haben realistischere Erwartungen, kommen besser mit Nebenwirkungen zurecht und haben seltener Komplikationen. 55 Prozent bevorzugen SDM – gegenüber dem Informationsmodell, bei dem sie allein entscheiden (18 Prozent), und dem paternalistischen Modell, bei dem der Arzt das Vorgehen beschließt (23 Prozent). Doch funktioniert SDM im Klinik und Praxisalltag? Wir haben Ärzte und Patientenvertreter befragt.
Kommunikation ist King
Kommunikationsskills werden immer wichtiger für Ärztinnen und Ärzte. In einer Befragung des Rechercheinstituts FactField im Auftrag von FOCUS-Gesundheit unter 6.783 Medizinern rankten 61 Prozent der Befragten Patienten-Kommunikation als wichtigste Kompetenz zukünftiger Mediziner, vor interdisziplinärer Zusammenarbeit, dem aktuellen Stand wissenschaftlicher Methodik, digitaler Kompetenz und dem Verständnis für Forschung. Die Befragung fand im Rahmen der Erhebung für die FOCUS-Top-Ärzteliste 2025 statt.

© FOCUS-Gesundheit
Mitentscheiden ist mehr als einwilligen.
„Das Besondere an SDM ist der strukturierte Prozess“, erklärt Stephan Hackenberg, Direktor der HNO-Klinik am Uniklinikum Würzburg. „Dass wir den Patienten zu Beginn bereits bewusst mitteilen, dass wir die Entscheidung gemeinsam treffen werden.“ Im Universitätsklinikum Schleswig Holstein in Kiel, das durch den Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses zum Nationalen Kompetenzzentrum SDM wurde, halten sich alle an ein Sechs-Schritte Modell.
Entscheidung in sechs Schritten
Bei der Wahl der Therapie hat sich diese Gesprächsstruktur bewährt:
- Ziel definieren: „Wir entscheiden nun gemeinsam über das weitere Vorgehen. Es gibt mehrere sinnvolle Möglichkeiten.“
- Patientenbeteiligung begründen: „Ihre Einschätzung ist wichtig, da nur Sie wissen, welche Möglichkeit in Ihrer Lebenssituation am besten passt.“
- Optionen erläutern: „Es gibt diese und jene Möglichkeit, ich erkläre Ihnen nun die jeweiligen Vor- und Nachteile.“
- Erwartungen erkunden: „Gibt es für Sie wichtige Punkte, die wir bei der Entscheidung bedenken sollten?“
- Entscheidung treffen: „Neigen Sie schon zu einer Therapie, oder brauchen Sie noch etwas, um die Entscheidung fällen zu können?“
- Umsetzung planen: „Ich schreibe Ihnen eine Überweisung, und in vier Wochen kontrollieren wir, ob sich Ihre Werte normalisiert haben.“
Quelle: UKSH Kiel
„Es ist der zentrale Punkt beim SDM“, so Zentrumsleiter Friedemann Geiger. Ein Arzt weiß zwar, dass er eine Therapie wählen will, wenn er ein Krankenzimmer betritt, der Patient jedoch nicht. Deshalb ist ein Satz wie dieser zum Start wichtig: „Wir müssen jetzt gemeinsam entscheiden, wie wir mit Ihrer Erkrankung umgehen.“ Die Patienten wissen dann, dass sie gebraucht werden, und hören besser zu, wenn der Arzt die Therapieoptionen erklärt. Zum Einsatz kommen zudem Online-Entscheidungshilfen, Broschüren oder Videos.
Werbung
Aktive Patienten haben größere Chancen
Im aktiven Patienten sehen Ärzte großes Potenzial. In der Befragung von FOCUS-Gesundheit und dem Rechercheinstitut FactField unter mehr als 6.700 Medizinern stimmten 94 Prozent voll oder eher zu, dass sich die Behandlungszufriedenheit erhöht, wenn der Patient sich stark mit einbringt, ebenso die Therapieadhärenz – also, dass die Patienten die Therapie gewissenhafter ausführen. Und auch zu einer verbesserten gemeinsamen Entscheidungsfindung trägt der aktive Patient bei. Das gaben 92 Prozent der Befragten an.

© FOCUS-Gesundheit
Oft führt ein anderer Weg auch zum Ziel. In der Medizin gibt es nicht nur Schwarz oder Weiß. So kommt bei Prostatakrebs eine OP infrage, die aber zu Inkontinenz führen kann. Die Alternative ist, abzuwarten und den Tumor zu überwachen. Während manche Patienten sich operieren lassen, um den Krebs loszuwerden, wählen andere die Überwachung, weil sie keine Inkontinenz riskieren wollen. Einige lassen sich gar nicht behandeln – auch so kann SDM enden. „Am besten funktioniert es, wenn ein Patient über mindestens zwei Möglichkeiten zum relativ gleichen Ziel kommt“, erklärt Stephan Hackenberg, „etwa zum Überleben einer Krebserkrankung.“
Friedemann Geiger nennt ein anderes Beispiel: „Zur Wahl stehen Spritzen, die sich der Patient selbst injiziert und bei 90 Prozent der Betroffenen wirken, und Tabletten, die bei 70 Prozent wirken. Aus ärztlicher Sicht müsste man die Spritzen verschreiben, weil 90 Prozent besser ist als 70. Doch manche können sich selbst keine Spritzen geben. Sie nehmen sie mit nach Hause und lassen sie im Schrank liegen. In einem SDM-Gespräch hätten sich Arzt und Patient auf die Tabletten geeinigt.“ Die Behandlung wird dadurch besser, weil 70 Prozent besser sind als null Prozent.
SDM lohnt sich auch vor kleineren Eingriffen
Nicht nur bei weitreichenden Entscheidungen, die etwa die weitere Lebensführung beeinflussen, rät Johannes Schenkel, Ärztlicher Leiter der Stiftung Unabhängige Patientenberatung Deutschland (Stiftung UPD), zu SDM. „Sinnvoll ist es immer, wenn es mehrere Möglichkeiten gibt.“ Die Polypenentfernung bei Kindern zum Beispiel ist meist keine große Sache. „Trotzdem sollte man die Entscheidung mit den Eltern treffen“, erklärt HNO-Arzt Stephan Hackenberg.
Ein Routineeingriff ist auch das Entfernen von weißem Hautkrebs. Rausschneiden, vereisen, veröden? Das mit dem Arzt abzuwägen, ist SDM. Bei der Therapie chronischer Erkrankungen wie Bluthochdruck oder Vorhofflimmern hat das Konzept Einzug in die Leitlinien gehalten. Sie setzen stärker auf Mitspracherecht, um Patienten besser in der Therapie zu halten. „Eine gute Entwicklung“, findet Heribert Brück, Sprecher des Bundesverbands Niedergelassener Kardiologen. Gutes SDM spart Zeit. Verschiedene Therapien mit Vor- und Nachteilen zu erklären, dauert. Studien belegen, dass SDM jedoch nicht mehr Zeit kostet als andere Arzt-Patienten-Gespräche. „Es kann sogar schneller sein, weil der Patient vielleicht am Ende weniger Fragen hat“, lautet die Erfahrung von Klinikdirektor Stephan Hackenberg.
Als niedergelassener Arzt findet Heribert Brück ebenfalls, dass ein gutes Gespräch schnell zum Ziel führen kann. „Voraussetzung ist aber, dass man die Sprache des Patienten spricht.“ Kommunikation ist das A und O. Es ist nicht einfach, wenn zwei Menschen mit unterschiedlichem Wissen eine Entscheidung treffen. Viele Patienten fürchten, als anstrengend zu gelten, wenn sie Wünsche äußern. Oder wollen den Arzt nicht aufhalten, weil das Wartezimmer voll ist.
„Kommunikation ist beim SDM das Allerwichtigste“, sagt Heribert Brück, der das Konzept aus Überzeugung in seinen Praxisalltag integriert hat. Im Gespräch mit Patienten fragt der niedergelassene Kardiologe wiederholt nach, ob alles verstanden wurde. Für gutes SDM braucht es nicht nur engagierte Patienten, die sich trauen, ihre Bedürfnisse zu kommunizieren, sondern einfühlsame Mediziner, die aufmerksam zuhören. 61 Prozent der Ärzte, die das Rechercheinstitut FactField 2024 im Auftrag von FOCUS Gesundheit befragte, sehen die Patientenkommunikation als ihre wichtigste Kompetenz. „Es nützt nichts, wenn ich jemandem empfehle, dreimal pro Woche zu joggen, obwohl er das nicht mag“, bestätigt Brück. „Also versuche ich herauszufinden, welcher Sport ihm Spaß macht.“ Ehrlichkeit und Vertrauen sind die Voraussetzungen für ein gelungenes Gespräch, auch aus Patientensicht. Johannes Schenkel von der Stiftung UPD: „SDM ist für uns ein Lösungskonzept, das zeigt, wie die Arzt Patienten-Kommunikation idealerweise ablaufen sollte.“ Nicht jeder Patient will entscheiden. „Die meisten reagieren positiv und nehmen die Möglichkeit mitzuentscheiden an“, berichtet Klinikarzt Stephan Hackenberg. Andere fühlen sich überfordert. „Ihnen mache ich Vorschläge und begründe, warum ich welche Therapie empfehlen würde“, so der HNO-Arzt. Spürt Hackenberg, dass ein Patient das Engagement für ein SDM nicht aufbringen kann, hat er eine Exit Strategie und sagt: „Ich habe das Gefühl, ich strapaziere Sie gerade. Vielleicht machen wir es anders: Ich empfehle Ihnen eine Therapie, und Sie überlegen es sich in Ruhe zu Hause.“
Die Wahl eines passenden Arztes kann für den Genesungserfolg entscheidend sein. FOCUS-Gesundheit gibt Orientierung bei der Suche nach dem richtigen Arzt und recherchiert für Sie Medizinerinnen und Mediziner, die für bestimmte Erkrankungen am meisten Erfahrung vorweisen können. Wichtiger Teil der Erhebung ist die jährliche fachspezifische Befragung von Ärztinnen und Ärzten, neben der Analyse von Sekundärdaten aus öffentlichen Quellen.
Deutschlands Top-Mediziner 2025 aus 126 Fachbereichen: https://www.focus-gesundheit.de/magazin/empfehlungslisten-top-mediziner-2025
Hin und wieder stünden kulturelle Unterschiede einem SDM im Weg, berichtet der Klinikdirektor: „Manche Kulturen fördern ein eher autoritäres Zusammenleben und sind nicht offen für so viel Selbstbestimmung. Das gilt es dann zu respektieren.“ Der Bildungsgrad spielt ebenfalls eine Rolle: Studien haben ergeben, dass SDM weniger gebildeten Menschen besonders nützt. „Natürlich ist es für den Arzt einfacher, mit jemandem zu reden, der sich schon gut auskennt“, sagt Friedemann Geiger. „Sich die Mühe zu machen, die Dinge auch in sehr einfacher Sprache zu erklären, lohnt sich aber. Denn Patienten mit weniger Vorwissen profitieren hinsichtlich ihrer Gesundheitskompetenz und Zufriedenheit sogar mehr als andere.“ Kardiologe Heribert Brück sagt, er habe mit der Zeit ein Gefühl dafür entwickelt, auf welchem Niveau er sprechen könne: „Schon der Händedruck zur Begrüßung sagt viel aus oder wie ein Patient seine Beschwerden schildert.“
Werbung
SDM entlastet Ärztinnen und Ärzte
Auch Mediziner fühlen sich mitunter besser, wenn sie die Therapie nicht allein gewählt haben. Experte Stephan Hackenberg: „Es kann passieren, dass eine OP nicht funktioniert oder ein Tumor auf Bestrahlung nicht reagiert. Damit umzugehen, ist leichter, wenn vorher SDM erfolgt ist.“ Die Patienten machen dann seltener Vorwürfe und sind eher bereit, mit dem Arzt nach vorn zu schauen.
SDM ist multidisziplinär
„Das ganze Team kann den Prozess effizient mitgestalten“, sagt Stephan Hackenberg. „So könnte eine Logopädin, die nach einer Tumor-OP mit dem Patienten das Schlucken üben wird, ihre Sicht schildern. Oder der Strahlentherapeut kommt hinzu, um seine Einschätzung abzugeben.“ Auch Angehörige gehören mit ins Boot; Hackenberg begrüßt es, wenn ein Patient eine Begleitperson mitbringt.
In Kiel werden auch die Pflegekräfte geschult, SDM umzusetzen. „Sie treffen ja ebenfalls Entscheidungen“, sagt Experte Geiger, „etwa ob die Mobilisation vor- oder nachmittags erfolgt.“ Beziehen sie die Patienten mit ein, arbeiten diese motivierter mit. Es ist noch Luft nach oben. Zwei Drittel der Patienten beklagen laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung, nicht in Entscheidungen eingebunden zu werden. Vielleicht auch, weil Ärzte, so die Stiftung, keine finanziellen Anreize haben, SDM umzusetzen. „Das Konzept steckt noch in den Kinderschuhen“, bestätigt Johannes Schenkel von der Stiftung UPD. „Wir ermuntern Patienten daher, die gemeinsame Entscheidung aktiv einzufordern, also nach Informationen zu fragen und von sich aus Erwartungen an eine Therapie zu formulieren.“
Neurologe Schenkel sieht Potenzial auf verschiedenen Ebenen; etwa müsste SDM Teil der Weiterbildung werden. Stephan Hackenberg nimmt auch Vorgesetzte in die Pflicht: „Als Klinikdirektor ist es meine Aufgabe, mit gutem Beispiel voranzugehen und meinen Weiterbildungsassistenten zu zeigen, wie so ein Patientengespräch ablaufen sollte.“ In Kiel durchlaufen Ärzte Trainings, um SDM zu lernen.
Dennoch schneidet Deutschland mäßig ab: In Dänemark und Taiwan gelang die Umsetzung schon besser, die USA und die Niederlande gelten als Vorreiter.

© FOCUS-Gesundheit
FOCUS-Gesundheit 02/2025
Dieser Artikel ist eine gekürzte Fassung. Den vollständigen Text finden Sie in der Ausgabe Die große Ärzteliste 2025. Weitere Themen: Ein neues Kommunikationskonzept verändert die Arzt-Patienten-Beziehung. Und: Wie Künstliche Intelligenz die Medizin revolutioniert. Außerdem: Patienten mit rheumatoider Arthritis dürfen auf Heilung hoffen. Plus: Deutschlands Top-Mediziner für 126 Fachbereiche.
Bisher sparen nur die Kassen
Weniger Notfalleinweisungen, weniger Komplikationen, weniger weggeworfene Tabletten – das spart Kosten. Aber nicht den Kliniken, sondern den Krankenkassen. „Damit sich SDM auch für Krankenhäuser rechnet, muss es ins Abrechnungssystem eingebettet werden“, fordert Friedemann Geiger aus Kiel. Dort sparte jeder Euro, der in SDM gesteckt wurde, sieben Euro ein. Der Zen trumsleiter sagt: „SDM verbessert die Versorgung bei geringeren Kosten. Das Gesundheitssystem kann sich gar nicht leisten, darauf zu verzichten.“
Die spannendsten Erkenntnisse der FOCUS-Gesundheit-Ärztebefragung 2025 hat unsere Redaktion in weitere Themengebieten aufbereitet:
- Künstliche Intelligenz, menschliche Medizin: Wie KI unser Gesundheitssystem verändert
- Telemedizin: Rettung für die Gesundheitsversorgung auf dem Land?
- 71% der deutschen Ärzte nutzen noch Faxgeräte: Scheitert die Digitalisierung im Gesundheitswesen?
- Gezielter entscheiden, präziser behandeln: Was personalisierte Medizin heute leistet