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RNA-Medizin: Eine Chance, bisher unheilbare Krankheiten zu behandeln

Mit RNA-Medizin lassen sich bislang unheilbare Krankheiten behandeln. Eine Riesenchance für Patienten mit seltenen Erkrankungen – aber auch bei Volkskrankheiten wie Alzheimer.

Geprüft von , Chefredakteurin FOCUS-GESUNDHEIT

Veröffentlicht: 2025-11-12T12:00:00+01:00

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© Christoph Burgstedt / iStockphoto

Matthis Synofzik hat seine Forschung einem Bereich gewidmet, der nur wenig beachtet wird. Als Facharzt für Neurologie an der Universitätsklinik Tübingen könnte er sich mit Alzheimer beschäftigen oder mit Parkinson. Mit Krankheiten, die allein in Deutschland Hunderttausende Menschen betreffen – er hat sich jedoch auf die sogenannten seltennen Erkrankungen spezialisiert. „An den Volkskrankheiten forschen schon so viele“, sagt er. „An seltenen Erkrankungen dagegen nur wenige – obwohl es hier mehrere Tausend gibt. Ich habe das Gefühl, auf dem Gebiet mehr bewegen zu können.“

Was er und seine Wissenschaftskollegen für einzelne Patienten entwickeln, hat möglicher weise dennoch Potenzial für Tausende. Weil sich grundlegende Erkenntnisse und Prozesse auf die Erforschung weiterer Therapien übertragen lassen. Synofziks Feld ist die RNA Medizin. Sie greift direkt in die zellulären Mechanismen ein, um genetische Defekte zu beheben oder Krankheitsgene stillzulegen. Das bietet die Chance, bislang unheilbare Krankheiten zu behandeln.

Auf dem Gebiet der seltenen Erkrankungen lässt sich noch sehr viel bewegen.

© Dr. Bertram Schaedle

Prof. Matthis Synofzik

Neurologe an der Universität Tübingen

Seltene Erkrankungen werden häufig durch Mutationen im Genom ausgelöst. Dies ist bei rund 80 Prozent der Fall. Welche Veränderungen das sind, lässt sich seit den 2010er Jahren dank technologischer Fortschritte einfacher und schneller bestimmen, vorausgesetzt, die Analysen werden auch durchgeführt.

Schritte zur Diagnose

Nur etwa die Hälfte der Betroffenen hat einen gesicherten Befund

1. Überweisung: Entwickeln sich Kinder nicht im Rahmen des Normalen, sollte der Kinder- oder Facharzt an eines der 36 Zentren für Seltene Erkrankungen (ZSE) überweisen

2. Spezialisierte Zentren: Man kann sich auch direkt an ein ZSE wenden. Diese haben unterschiedliche Schwerpunkte. Einen Überblick bietet: www.se-atlas.de

3. Genanalyse: Die Experten an den ZSE prüfen, ob eine Genanalyse medizinisch sinnvoll ist. Liegt ein Verdacht auf eine genetisch bedingte Erkrankung vor, übernehmen die Krankenkassen die Kosten der Analyse

An Therapieangeboten fehlt es jedoch noch immer, weil die einzelnen Krankheiten teils ausgesprochen komplex sind und jeweils nur wenige Patienten daran leiden. Für 95 Prozent der Erkrankten gebe es keine Therapieoption, sagt Synofzik.

Ein Medikament für einen Patienten

Als selten gilt eine Erkrankung, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen davon betroffen sind. Die Entwicklung eines Medikaments kostet mindestens einen dreistelligen Millionenbetrag und dauert Jahre. Die Investition in eine neue Therapie für eine einzige der seltenen Erkrankungen ist wirtschaftlich unrentabel. Nun scheint es einen Ausweg aus dem Dilemma zu geben. 

Selten, aber verbreitet

  • Unter 5 von 10.000 Menschen leiden an der Erkrankung, dann spricht man von einer seltenen Erkrankung
  • 6.000 unterschiedliche seltene Erkrankungen gibt es, jährlich kommen neue hinzu
  • 4 Millionen Menschen sind in Deutschland betroffen

Quelle: Bundesministerium für Gesundheit, 2025

RNA-Therapien sind die großen Hoffnungsträger der Medizin. Sie zählen nicht nur zu den großen Plattformen für die schnelle und relativ kostengünstige Entwicklung neuer Therapien, sie bieten auch weitere Vorteile. „Die Korrekturmoleküle beeinflussen den biologischen Prozess an seinem Ausgangspunkt, sodass wir nicht nur Symptome und Folgeerscheinungen lindern, sondern den Krankheitsverlauf direkt an seiner Wurzel behandeln können“, erklärt Synofzik. Das eröffne die Chance, Genmutationen und ihre teils schwerwiegenden Krankheitsfolgen zu korrigieren.

Da ist zum Beispiel Poyraz Kurt. Ein Junge, der mit etwa vier Jahren in die Sprechstunde kam. Kurz nach seinem ersten Geburtstag hatten die Eltern Auffälligkeiten in seiner Entwicklung bemerkt. Anstatt sich deutlicher zu artikulieren, sprach das Kind zunehmend verwaschener. Statt jeden Tag ein wenig sicherer auf den Beinen zu stehen, fiel es immer häufiger hin. Eine Genanalyse offenbarte schließlich den Grund: Poyraz leidet an Ataxia teleangiectasia. Eines von 100.000 Neugeborenen ist von der neurologischen Erkrankung betroffen, sie gilt als unheilbar.

Als Folge eines Gendefekts sterben im Kleinhirn Nervenzellen ab. „Das Kleinhirn kann man sich vorstellen wie das Lenkrad eines Autos“, erklärt Synofzik. Degeneriert es, geht die motorische Koordination verloren. Es fällt dann schwer, Arme und Beine gezielt einzusetzen. Balancieren, Klettern oder auch nur Geradeauslaufen werden unmöglich. „Das ist unter dem motorischen Aspekt, als sei man betrunken – nur eben dauerhaft und sogar zunehmend“, erläutert der Neurologe. Auch Alkohol wirkt aufs Kleinhirn.

Poyarz wird mit synthetisch hergestellten RNA-Schnipseln behandelt, den sogenannten Antisense-Oligonukleotiden, kurz ASOs. Die Moleküle binden an die fehlerhafte RNA, stabilisieren und korrigieren den betroffenen Abschnitt. Das Gen kann wieder korrekt abgelesen werden (siehe Infografik Seite 50). ASOs lassen sich so spezifisch designen, dass sie für einen einzelnen Menschen und dessen Erkrankung maßgeschneidert sind – in diesem Fall für Poyarz.

So funktioniert die ASO-Technologie

Die synthetisch hergestellten RNA-Moleküle überbrücken den Gendefekt, der die Herstellung von Protein verhindert

© FOCUS-Gesundheit

Den Fehler reparieren

Auf der DNA im Zellkern ist der Bauplan für alle Proteine gespeichert. Um ein Protein zu bilden, muss ein Bereich der DNA abgeschrieben werden. Es entsteht eine prä-mRNA. Enzyme schneiden einzelne Bereiche aus der prä-mRNA und verknüpfen die übrigen miteinander. Dieser Prozess heißt „Spleißen“. Erkennt die zelluläre Maschinerie den Spleißort aufgrund einer Mutation nicht, kann kein korrektes Protein gebildet werden. ASOs legen sich über solche Mutationen, ermöglichen somit das korrekte Spleißen und die Bildung von Protein (Translation)

Glück im Unglück für den damals Vierjährigen: Das geeignete Medikament gab es schon. Zufällig hatten internationale Kollegen, mit denen das Tübinger Team zusammenarbeitet, einen passgenauen ASO für die Genmutation des Jungen entwickelt. „Time is brain“, heißt es in der Medizin, sobald das Gehirn betroffen ist. Je eher die Behandlung beginnt, desto mehr gesundes Gewebe wird gerettet, zerstörte Nervenzellen lassen sich nicht wieder reparieren.

Seit drei Jahren läuft nun die Therapie. Alle drei Monate bekommt der heute Siebenjährige das Medikament per Lumbalpunktion direkt ins Nervenwasser gespritzt, das Rückenmark und Gehirn umfließt. Die winzigen ASO-Moleküle dringen in die Nervenzellen ein und lagern sich an das mutierte, krankheitsverursachende Gen. Sie überschreiben die genetische Veränderung und ermöglichen dem Körper, wieder Protein herzustellen und das Absterben der Nervenzellen im Kleinhirn zu verhindern.

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Vorreiter einer Therapie für viele

Poyraz verfügt heute nahezu über die gleichen Fertigkeiten wie seine Altersgenossen. In der Klinik ist neben vielen Untersuchungen auch Zeit für praktische Spiele, etwa mit dem Radlader im Sandkasten schaufeln. Für Synofzik ist dies auch eine Gelegenheit, die Motorik des Jungen zu beobachten. Ein Erfolg der ASO-Therapie? „Aktuell ist es noch zu früh, um das zu beurteilen. Möglicherweise erläuft bei ihm die Krankheit ausnahmsweise langsamer“, wiegelt Synofzik vorsichtig ab. „In zwei bis drei Jahren werden wir mehr Gewissheit über die etwaige Wirksamkeit haben.“

Normalerweise müssen Medikamente, von der Kopfschmerztablette bis zur Chemotherapie, über Jahre an Tausenden von Menschen hinsichtlich Wirksamkeit und Sicherheit getestet werden. Bei Therapien für seltene Erkrankungen ist das nicht möglich. „Es gibt keine Daten aus klinischen Studien, einfach weil es nicht ausreichend Patienten mit dieser speziellen Mutation gibt, die man für eine solche Studie rekrutieren könnte“, erklärt der Wissenschaftler. Die Patientinnen und Patienten nehmen mit der Zustimmung zur Behandlung das Risiko in Kauf, dass die Effektivität des Medikamentes unklar und nichts über mögliche Nebenwirkungen bekannt ist. Allerdings stehen auch keine anderen Optionen zur Verfügung. Höhergradige, für den Alltag relevante Nebenwirkungen sind bei Poyraz nicht aufgetreten. „Das ist sehr erfreulich, weil wir die Verträglichkeit des Medikaments nur an Modellen testen konnten“, sagt Synofzik. 

Auch wertet der Experte dies als Hinweis, dass der Therapieansatz über den Einzelfall hinaus erfolgversprechend sein könnte. Ziel ist es, das Verfahren für möglichst viele Menschen mit seltenen neurologischen Erkrankungen anwendbar zu machen. Eine Voraussetzung dafür ist erfüllt. Über das Nervenwasser verabreicht, können die ASOs von erkrankten Nervenzellen aufgenommen werden. Zweite Voraussetzung: Die Mutation muss in zugänglichen Spleiß bzw. Schneidestellen liegen, also dort, wo angezeigt wird, welche Teile der Genbotschaft behalten und welche aussortiert werden sollen. Dies treffe bei zehn bis 20 Prozent der Patienten zu, meint Synofzik. „Wir wollen nicht nur zeigen, dass die ASO-Therapie grundsätzlich möglich und wirksam ist, wir wollen sie auch in den klinischen Alltag bringen.“

Das Prinzip Schlüsselwerkstatt

Um die Therapie vielen Erkrankten zugänglich zu machen, will der Neurologe die gesamte ASO-Herstellung so weit wie möglich standardisieren. Je weniger sich der Prozess von Mensch zu Mensch sowie von Mutation zu Mutation unterscheidet, desto schneller und kostengünstiger kann die Entwicklung neuer, passgenauer Therapien werden.

Synofzik setzt dazu an mehreren Stellschrauben an. Statt jeden ASO von Grund auf neu herzustellen, nutzt das Tübinger Team immer die gleiche Substanz: das Medikament Nusinersen. Es besteht ebenfalls aus RNA und ist bereits für die Therapie einer bestimmten Form der spinalen Muskelatrophie zugelassen. Die Forscher tauschen lediglich einzelne Grundbausteine, Nukleotide, aus, damit der ASO perfekt auf die jeweilige Mutation passt. Diese Vereinheitlichung von Arbeitsschritten soll künftig Geld sparen – aber vor allem auch zehn bis zwölf Jahre Entwicklungszeit. „Das Prinzip dahinter ist das gleiche wie bei einer Schlüsselwerkstatt, in der Schlüssel für Tausende verschiedene Schlösser angefertigt werden“, erklärt Synofzik. Der Schlosser nutzt eine gleichbleibende Vorlage, in die er mit dem immer gleichen Werkzeug unterschiedliche Kerben in den Schlüsselbart fräst. „Das Ergebnis ist ein individueller Schlüssel, der zu einer einzigen Tür passt – wie unsere ASOs für einen einzelnen Patienten.“

© FOCUS-Gesundheit

Klinikliste 2026

FOCUS-Gesundheit 05/25

Dieser Artikel erschien zuerst in der Ausgabe Klinikliste 2026 von FOCUS-Gesundheit. Weitere Themen: Klinische Studien können Kranke frühzeitig in neue Therapien bringen. Modernste Diagnostik revolutioniert die Medizin. Plus: Deutschlands Top-Kliniken.

Hoffnung auch für Alzheimer?

Nicht nur Menschen mit seltenen Erkrankungen könnten von der Therapie mit ASOs profitieren. „Für eine häufige Erkrankung läuft derzeit eine sehr aussichtsreiche Phase-2-Studie, unter anderem auch hier in Tübingen“, erzählt der Neurologe. „Sie testet die Wirksamkeit von ASOs bei der Alzheimer-Erkrankung.“ Denn die RNA-Schnipsel können nicht nur eingesetzt werden, um mutierte Gene zu reparieren, sie können auch verhindern, dass unerwünschte Proteine hergestellt werden – bei Alzheimer sind es die sogenannten Tau-Proteine. „Wir sehen, dass die Menge an Tau-Protein im Nervenwasser nach einer Therapie mit ASOs stark abnimmt. Das ist sehr vielversprechend. Aber es wird noch ein paar Monate dauern, bis wir mehr wissen“, so Synofzik.

Noch stehen Therapien mit ASOs ganz am Anfang, doch ihr Potenzial ist riesig. Neurologe Synofzik will sein Augenmerk weiterhin auf die seltenen Erkrankungen richten. Doch es deutet vieles darauf hin, dass hier wertvolle Ansätze für eine Behandlung der großen neurologischen Volkskrankheiten zu finden sind.

© FOCUS-Gesundheit

Klinikliste 2026

FOCUS-Gesundheit 05/2025

Neues Nüchterheitskonzept: Einige Kliniken verkürzen die Zeiten der Nüchternheit vor einem chirurgischen Eingriff drastisch. Klinische Studien können Kranke frühzeitig in neue Therapien bringen. U.v.m. Plus: Deutschlands Top-Kliniken.

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