Für eine Ernährungsumstellung gibt es nur einen Weg
Wer sich gesünder ernähren möchte, muss vor allem sich selbst besser kennenlernen. Denn Essgewohnheiten sind tief verankert. Um sie nachhaltig zu verändern, braucht es einen individuellen Weg.
9.23 Uhr: zwei Scheiben Vollkornbrot, Gemüseaufstrich, etwas Salz. 10:14 Uhr: Kaffee mit Milch, kein Zucker. Einen Monat habe ich das genaueste Tagebuch meines Lebens geführt. Jedes noch so kleine Detail meiner Ernährung notierte ich. Der Nährwert-Balken meiner App blieb fast jeden Tag im grünen Bereich. Alles richtig gemacht! Meine Motivation war hoch.
Doch bereits im zweiten Monat werden meine Einträge ungenauer. Das Lángos auf dem Weihnachtsmarkt tauchte beispielswiese nicht in meinen Ernährungstagebuch auf. Und der Nachmittags-Schokoriegel war auch schnell vergessen, wenn ich abends meine Einträge schuldbewusst nachholte. In Monat sechs, am Ende meines Selbstexperiments, ernährte mich tatsächlich anders: nämlich schlechter als zuvor. Hätte ich es gar nicht versuchen sollen?
Über 95 Prozent der Ernährungsumstellungen scheitern, schätzt die Ernährungs-Therapeutin Cornelia Fiechtl, mit eigener Praxis in Wien. Meist aus denselben Gründen: Die falsche Herangehensweise und das falsche Mindset. Dem sogenannten Rebound, wie er mir passiert ist, also das stärkere Zurück in schlechte Ernährungs-Gewohnheiten, begegnet Fiechtl in ihrer Arbeit häufig. Denn für viele resultiert aus dem Scheitern die Überzeugung: Jetzt ist es doch sowieso schon egal! Aber, wenig überraschend: Das ist es natürlich nicht.
Ich starte also meinen zweiten Versuch. Diesmal besser gewappnet, denn den entscheidenden Faktor beziehe ich diesmal mit ein: mich!
„Ernährung und Ernährungsverhalten sind zwei verschiedene Dinge. Sie können sich ausgewogen ernähren, aber dabei Ihr Ess-Tempo oder Sättigung nicht berücksichtigen. Verhalten und Ernährung müssen sinnvoll ineinandergreifen.“
Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin mit Schwerpunkt auf Essverhalten. Außerdem ist sieExpertin für Ernährungspsychologie sowie emotionales Essen.
Bei meinem neuen Anlauf hilft mir ein alter Bekannter: das Ernährungstagebuch. Allerdings halte ich dieses Mal nur zwei Wochen darin fest. Denn das reicht aus, um ein Bild über meine Gewohnheiten beim Essen zu bekommen. „Ich rate davon ab, die Ernährung über längere Zeiträume zu tracken“, sagt die Oecotrophologin und zertifizierte Ernährungsberaterin Heike Bornemann, Leiterin des Instituts für systemorientiertes Gesundheitsmanagement in Essen. „Wer sich zu stark mit seiner Ernährung beschäftigt, hat ein erhöhtes Risiko für Essstörungen.“
Wer sich zu stark mit seiner Ernährung beschäftigt, hat ein erhöhtes Risiko für Essstörungen.
Diplom-Oeoctrophologin und Gesundheitswissenschaftlerin. Als Expertin für systemisch-integrative Ernährungsberatung leitet sie isogm, das Institut für systemorientiertes Gesundheitsmanagement in Essen und Kiel.
Richtig starten
Sind die Ernährungsgewohnheiten einmal notiert, lohnt sich der Blick auf die kleinen Stellschrauben. „Man muss nicht die gesamte Ernährung über den Haufen werfen. Das ist auch nicht ratsam“, sagt Bornemann. „Kleine Veränderungen an den richtigen Stellen, können über längerer Zeit starke Effekte haben.“ Ein Beispiel: Trinken Sie Ihren Kaffee mit zwei Würfeln Zucker? Dann versuchen Sie zunächst um einen Würfel zu reduzieren, oder sogar ganz auf Zucker zu verzichten. Erreichbare Ziele motivieren und sind leichter durchzuhalten. Verschiedene Studien zeigen, dass kleine Änderungen schneller angenommen und damit eher zur Gewohnheit werden.
80% schätzen ihre Ernährung gesünder ein, als sie tatsächlich ist, laut einem Bericht der American Society for Nutrition von 2022. Ein Ernährungstagebuch kann Licht ins Dunkel bringen.
„Die richtigen Ansatzpunkte für Veränderungen zu erkennen, ist oft nicht ganz einfach“, so Bornemann. Gerade, wenn man eine umfassendere Ernährungsumstellung plant. Dann kann eine professionelle Ernährungsberatung helfen. Die Experten werten das Ernährungstagebuch mit aus. Viele Krankenkassen übernehmen Teile der Kosten.
Tipp bei emotionalem Essen: Der Begriff „Frustesser“ ist landläufig bekannt. Wer vermutet einer zu sein, kann auch die Stimmung neben seine Mahlzeiten notieren. Denn: Wenn man nach der Arbeit abends sofort einen Schoko-Riegel braucht, hat man ihn wahrscheinlich zur Stressbewältigung gegessen.
„Wer aus einer Emotion wie Stress heraus den Kühlschrank oder das Süßigkeitenfach plündert, sollte sich andere Strategien zurechtlegen, am besten schon im Vorfeld“, sagt Bornemann. Stellen Sie sich folgende Fragen: Was kann ich Gutes für mich tun? Was hat mir schon früher gegen Stress geholfen? Radfahren, schwimmen, ein warmes Bad? Wenn ich nach einem Stressigen Tag nach Hause komme, kann ich auch eine Runde spazieren gehen als zu Süßem zu greifen. Vorbeugend kann es helfen, während der Arbeit immer wieder 5-Minuten-Pausen einzulegen, um Stress zu vermeiden.
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Gut geplant ist halb geschafft
Wenn die Stellschrauben gefunden sind, geht es an die Umsetzung. Und kommt es vor allem auf eine gute Planung an. „Die meisten Menschen brauchen Strukturen, um sich ausgewogen zu ernähren“, sagt Cornelia Fiechtl. Und ich ahne: Ich gehöre zu diesen Menschen. Mal frühstücke ich um sechs in der Früh, mal um neun, dann wieder gar nicht. Auch das, was ich dann esse, obliegt eher dem Zufall. Dass ein ausgiebiges Frühstück Menschen zudem helfen kann, den Appetit zu regulieren, legt eine Studie aus dem Jahr 2022 nahe: Laut ihr hatten die Probanden mit Adipositas, die am Morgen mehr aßen, über den restlichen Tag spürbar weniger Hunger.
Und auch auf die Zeit zwischen den Mahlzeiten macht einen Unterschied. Die Essenspausen sollten mindestens drei bis fünf Stunden betragen, empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE). Das unterstützt die Fettverbrennung, beugt Heißhunger vor und stabilisiert den Blutzuckerspiegel.
„Zudem lohnt es sich den Einkauf zu planen“, sagt Ernährungsexpertin Fiechtl. Wer die festgelegten Änderungen vorher durchdenkt, setzt sie besser um. Dann landen nicht wieder wie durch Zufall die Chips im Einkaufswagen. Eines darf auf der Liste nicht fehlen: Die Zutaten für Lieblingsgerichte und Lieblingsobst und -gemüse.
Falafel-Wraps, frische Mango, Brokkoli und mein Lieblingseis, notiere ich mir also als erstes als Must-Haves. Und plane gleich ein weiteres Wochen-Highlight mit: neue leckere, ausgewogene Gerichte. Dazu suche ich online nach Rezepten, auf die ich in der nächsten Zeit Lust hätte. Die Zutaten für einen Mango-Salat und die Brokkoli Cremesuppe mit Tofu schaffen es also auch auf die Einkaufliste.
Das Tellermodell
Eine gute Orientierung, wie eine ausgewogene Mahlzeit aussehen kann, liefert die Richtlinie der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE).
Achten Sie neben einer möglichst bunten Ernährung auf das Tellermodell: Eine Mahlzeit sollte demnach aus 1/4 Proteine, 2/4 Ballaststoffe und 1/4 Kohlenhydrate bestehen. Beispiele für Nahrungsmittel mit diesen Nährstoffen zeigt die Infografik. Nähere Informationen dazu finden Sie auf der Seite der DGE.
Schritt für Schritt
Um die neuen Mahlzeiten auch zu seinen Standard-Gerichten zu machen, geht man am besten in kleinen Schritten vor und im eigenen Tempo: Ich überlege zunächst welche Mahlzeit ich als erstes angehe und entscheide mich für das Frühstück. Für dieses finde ich drei ausgewogene Optionen, die mir schmecken: ein Porridge mit Beeren, Rührei mit Vollkornbrot und Karotten mit Jogurt-Dip. Meine Frühstücks-Optionen bereite ich mir abwechselnd so lange morgens vor, bis sie sich schon fast von allein zubereiten. Sie sind zur Gewohnheit geworden. Wie lange das dauert, ist individuell – einen Monat, zwei oder auch länger. Nach und nach passe jede Mahlzeit, die ich ändern möchte, an. Was mir hilft bei meinem Plan zu bleiben: Die Zutaten für etwa drei ausgewogene Gerichte immer zu Hause zu haben.
Haben Sie Geduld mit sich. Dass es 21 Tage dauert, um eine Gewohnheit zu ändern ist ein Mythos. Er lässt viele glauben, dass es einfach ist neue Gewohnheiten zu etablieren. Doch das stimmt nicht. Aktuelle Untersuchungen legen nahe: Bei manchen Menschen dauert es bis zu einem Jahr, um Gewohnheiten wirklich zu ändern. Je komplexer sie ist, desto länger dauert es, wie es etwa Ernährungsgewohnheiten.
Tipp: Zelebrieren Sie Ihr essen! Um bewusster zu genießen, richtet unsere Autorin Alicia Müller ihre Mahlzeiten und den Esstisch inzwischen öfter mal schön an.
Ernährung in Graustufen
8:17 Uhr: Porridge mit Mango, 12:36 Uhr: Pinsa mit Kartoffeln und Schmand, 18:03 Uhr: Spinatsalat mit Feta. Würde ich heute ein Tagebuch führen, wären das meine Einträge. Und ich wäre zufrieden damit. Denn zwei Fragen stelle ich mir bewusst nicht mehr: „Wie sieht die perfekte Ernährung aus?“ und „Kann ich mich selbst bei ungesundem Essen nicht gut kontrollieren?“
„Viele Menschen, die zu mir in die Beratung kommen, wünschen sich weniger Belastung durch das Thema Ernährung. Sie möchten Frieden schließen mit dem Thema Essen“, berichtet Fiechtl. „Sich selbst abzuwerten, hilft dabei natürlich nicht. Und Begriffe wie Selbstkontrolle sind völlig fehl am Platz.“ Denn ausgewogene Ernährung sei ein Aufbau von Routinen.
Essen soll Spaß machen. Schließlich geht es auch um Genuss. Wer in Kategorien von guten und schlechten Lebensmitteln denkt, baut unter Umständen eine negative Beziehung zur Nahrungsaufnahme auf. Das Schlemmen bleibt dann natürlich auf der Strecke. Dabei gibt es kein schwarz-weiß bei der Ernährung. „Kalorienreiches Essen ist weder ungesund oder gesund. Auf die Menge und den Bedarf kommt es an“, erklärt Fiechtl. Und man darf sich durchaus immer wieder etwas gönnen, wie ein Stück Schokolade. „Wenn man sich Lebensmittel verbietet, dann überisst man sich. Man kann Lebensmittel auf Dauer nicht aus dem Weg gehen.“so Fiechtl. Problematisch sei die Schokolade erst, wenn sie regelmäßig benutzt werde, Emotionen zu regulieren.
4 von 10
Deutschen essen öfters nebenbei, laut einer Studie der Techniker Krankenkasse. Das Tückische: Dabei nimmt man die Sättigung nicht so gut wahr. Wer vor dem Fernseher ist, nimmt durchschnittlich 150 Kalorien mehr zu sich, ergab eine amerikanische Studie.
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Motiviert bleiben
„Um an einer Umstellung dranzubleiben, ist der Blick auf das Positive hilfreich“, sagt Bornemann. „Machen Sie sich öfter Funkel-Momente klar und stellen Sie sich die Frage: Was läuft in meiner Ernährung gut?“
Am wichtigsten ist für Bornemann, sich als Person nicht abzuwerten, wenn etwas nicht klappt. „Lernen sie einmal ihren inneren Schweinehund kennen“, rät Bornemann. „Dann werden Sie erfahren: Er will im Grunde das Beste für Sie! Nachsicht und Perspektivwechsel sind bei einer Ernährungsumstellung wichtig.“ Denn: Vielleicht ist er nicht faul, sondern mag es hin und wieder einfach nur gemütlich. Damit aus dieser Beziehung dann noch eine Freundschaft fürs Leben wird, heißt es auch hier: dranbleiben.
Quellen
Ruddick-Collins L et al.: Timing of daily calorie loading affects appetite and hunger responses without changes in energy metabolism in healthy subjects with obesity; Cell Metabolism; 2022; DOI: 10.1016/j.cmet.2022.08.001
Singh B et al.: Time to Form a Habit: A Systematic Review and Meta-Analysis of Health Behaviour Habit Formation and Its Determinants; Healthcare; 2024; DOI: 10.3390/healthcare12232488
Ellithorpe E. et al.: Meal-Concurrent Media Use is Associated with Increased Dietary Intake with no Evidence of Next Meal Compensation in Free-Living Adults; Obesity; 2019; DOI: 10.1002/oby.22577
Lebenszeit, Krankheitslast, Gesundheitskosten – warum unser Land bessere Prävention braucht und was wir gewinnen können.Gangschule: Richtig gehen bringt den Körper ins Lot. Plus: Übungen für geschmeidigere Gelenke. Und: Deutschlands Top-Rehakliniken und Top-Kurorte
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