Sie könnten aber wichtig sein. So ist etwa bekannt, dass sich der Stoffwechsel von Männern und Frauen unterscheidet und sich mit dem Alter veändert. „Im Mittel verlängern wir mit unserer Basistherapie das Leben der Patienten“, so Tschöpe. „Trotzdem stirbt jemand mit schwerer Herzschwäche innerhalb von fünf Jahren mit einer 50-prozentigen Wahrscheinlichkeit. Das könnten wir verbessern, indem wir personalisierte Ansätze wählen.“ Von der gleichen Therapie für alle profitierten manche eben mehr und andere weniger. Für wieder andere brächte sie gar keinen Effekt – und einigen wenigen schadeten die Medikamente möglicherweise sogar.
Herz ist nicht gleich Herz – So unterschiedlich sind unsere Herzen
Um jedem Patienten die optimale Therapie anzubieten, möchte die Kardiologie dorthin kommen, wo andere Disziplinen wie die Onkologie längst sind: Ärzte betrachten jeden einzelnen Patienten und dessen Erkrankung differenziert. Genauso wenig wie Krebs gleich Krebs ist, ist Herzschwäche gleich Herzschwäche. Dass das lebenserhaltende Organ mehr ist als eine mechanische Pumpe, haben Wissenschaftler längst erkannt.
In den vier verschiedenen Hohlräumen des Herzes herrschen unterschiedliche Blutdrucke; ein Reizleitungssystem sorgt für einen regelmäßigen Herzschlag, der sich an äußere Umstände wie die körperliche Belastung anpasst. Sogar Hormone schüttet das Herz aus.
Wie nuanciert das Herz tatsächlich arbeitet – und warum Frauenherzen anders ticken als die der Männer –, konnten Wissenschaftler jetzt erstmals im Detail erforschen. Teams aus Deutschland, Großbritannien, den USA, Kanada, China und Japan erstellten eine Art Landkarte der Herzzellen. Der molekulare „Herzatlas“ bildet das Organ genauer ab als je zuvor – und zeigt eine überraschend große Vielfalt.
Frauen haben mehr Muskeln im Herz
„Neben den bekannten 13 Zelltypen wie Herzmuskelzellen, Bindegewebszellen, Gefäßzellen oder Immunzellen haben wir auch 62 verschiedene Zellstadien entdeckt“, berichtet Hübner. Zu bestimmten Zeitpunkten übernehmen die gleichen Zellarten unterschiedliche Aufgaben und lesen entsprechend andere Gene ab. „Das menschliche Pumporgan ist deutlich komplexer, als wir bisher dachten“, so der Wissenschaftler.
Besonders ausgeprägt sind die Abweichungen zwischen den Geschlechtern. „Im Verhältnis hat die Frau mehr Herzmuskelzellen als der Mann“, sagt Hübner. Das könnte erklären, weshalb Frauen andere Herzinfarktsymptome zeigen, auf bestimmte Medikamente nicht wie das männliche Geschlecht reagieren und auch Entzündungsreaktionen bei Männern und Frauen unterschiedlich verlaufen.
Die COVID-19-Herzmuskelentzündung ist anders
Um Herzerkrankungen künftig präziser zu behandeln, vergleichen die Wissenschaftler die molekularen Analysen gesunder Herzen mit den Daten von Patienten. „Wir bekommen ein ziemlich genaues Bild, wie Krankheitsprozesse ablaufen“, sagt Hübner. Es sollen Unterschiede entdeckt werden, die spezifischere und damit wirksamere Therapien ermöglichen.
Erste Erkenntnisse gab es bereits bei COVID-19-Patienten, die als Folge der Viruserkrankung eine Herzmuskelentzündung erlitten hatten. Die Untersuchung ihrer Zellen – gewonnen aus stecknadelkopfgroßen Gewebeproben (Herzbiopsien) im Rahmen von Katheteruntersuchungen – zeigte, dass SARS-CoV-2 eine völlig andere Immunreaktion auslöst, als die Experten es bei bisherigen Herzmuskelentzündungen beobachteten.„Jedes Virus scheint im Herz einen anderen toxischen Mechanismus in Gang zu setzen“, so Tschöpe. Seine Schlussfolgerung: Genau wie der Kampf gegen Bakterien spezifische Antibiotika erfordere, benötigten Patienten mit Herzmuskelentzündung differenzierte Therapien, die auf die jeweilige Krankheitsursache zugeschnitten sind.
Spezifische Behandlungsmöglichkeiten bei Vorhofflimmern oder Amyloidose des Herzes
Auch Patienten mit Vorhofflimmern werden heute individueller behandelt. Bekamen einst alle blutverdünnende Medikamente, um das hohe Schlaganfallrisiko zu senken, nehmen Kardiologen heute zunächst eine Risiko-Nutzen-Abwägung vor. Denn die schützenden Wirkstoffe können auch Blutungen im Kopf auslösen. Einfache Parameter wie Alter, Geschlecht, die Form des Vorhofflimmerns oder ob zusätzlich eine Herzinsuffizienz vorliegt, fließen in ein Punkte-System ein. Liegen die Werte des Patienten auf der Skala bei null bis einem Punkt, verzichtet man in der Regel auf eine Blutverdünnungs-Therapie.
„Ich denke, in Zukunft werden wir Herzpatienten immer genauer charakterisieren“, prognostiziert Kardiologe Tschöpe. Neben der Bildgebung mittels Magnetresonanztomografie spiele dann vielleicht die Liquid Biopsy eine wichtige Rolle. Im Blut von Patienten messen Ärzte spezifische Biomarker. BNP (B-Typ Natriuretisches Peptid) zum Beispiel, ein Herzhormon, oder Autoantikörper, die an fehlgeleiteten Immunreaktionen beteiligt sind. Auch Gewebeproben des Herzes oder genetische Analysen könnten herangezogen werden.
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Lebende Herzproben für Wirkstofftests
Wir sehen, dass wir Patienten mit der gleichen Diagnose aufgrund verschiedener Parameter in Cluster einteilen können. Noch tun wir das im Rahmen wissenschaftlicher Studien. Irgendwann soll es aber für die Therapie relevant werden“, erklärt Tschöpe. Am Berlin Institute of Health (BIH) arbeiten Wissenschaft, Klinik und Industrie eng zusammen, um möglichst schnell konkrete personalisierte Therapie für Patienten verfügbar zu machen.
Eines der Projekte, an dem auch Tschöpe beteiligt ist, sind sogenannte Living Slices. Wissenschaftler halten im Labor Gewebeproben von Patienten am Leben und leiten elektrische Impulse ab. Auf die Zellkulturen geben sie verschiedene Medikamente und beobachten, wann sich der Puls des Herzgewebes normalisiert. Individualisierter kann Medizin kaum sein.